Das Sterbebildchen
von Bernhard Betz
Gaby, nur ihre Eltern dürfen sie Gabriele nennen, ist
22 Jahre alt und hat jetzt noch eine Oma. Die andere segnete vor 14
Tagen
das Zeitliche. Wie man so sagt, mit Trauer in der Stimme und doch auch
einem Seufzer der Erleichterung. Es war halt eine Erlösung,
bettlägerig,
verwirrt und eigentlich schon jenseits des Zeitlichen, ist die Oma mit
89 Jahren davon gegangen.
Die Oma wurde von der Schwiegertochter, Gabys Mama, versorgt und als
soweit war, und man ja auch nichts versäumt haben wollte, da
mußte
sie doch ins Krankenhaus.
Gabys andere Oma, auch schon weit über achtzig, lebt alleine auf
ihrem alten, längst stillgelegten Bauernhof. Es sind keine
Kühe
mehr zu melken, es ist kein Schweinegrunzen zu hören, kein Hofhund
bellt, wenn man in den sandigen Hof tritt. Ein paar Hühner
scharren
und erinnern daran, daß man in diesem städtischen Vorort
noch
auf dem Land ist. Die Hühner sind Omas Lebensinhalt, deren Futter
und deren Eier. Die Eier vor allem für den Herrn Pfarrer. Er
kommt noch treu jeden Samstag und spendet die Krankensalbung, denn die
Oma ist jede Woche fest überzeugt, daß sie in der
nächsten
Woche Gabys anderer Oma folgt, folgen muß oder .....schon gefolgt
ist?
Pflichtgetreu hat Gabys Mutter dieser Oma, ihrer Mutter, beim
täglichen
Besuch vom Sterben und der großen Beerdigung der anderen Oma
erzählt.
Und da wir im Katholischen sind, hat sie auch das Sterbebildchen mit
einem
Gebet, mit Geburts- und Sterbedatum und einem Foto der
Verstorbenen,
mitgebracht. "Ja, so, die Vreni, auch heimgangen, ja, so, so... ." Sie
nimmt das Bildchen dreht' s in den Finger und legt es dahin, wo auch
schon
alle anderen hingewandert sind. Das von ihrem Mann, der sie vor 23
Jahren
allein gelassen hat und, noch ist es nicht lang her, das von der
Nachbarin.
Es soll zwischen zwei Blätter ihres "Gotteslob", ihrem
vertrauten
Gesangbuch. Ein wenig fahrig gehen die Finger durch die Seiten, finden
einen leeren Zwischenraum, schieben das Bildchen sorgfältig hinein
und schon gehen die Finger weiter, bleiben an einem vergilbten Bildchen
hängen, sie nennt den Namen, holt ein fast noch druckfrisches
heraus
und legt es wieder zurück.
Dann verstummt sie, wird nachdenklich, jetzt gehen die Finger wieder
schneller durch die Seiten, verweilen, sie greift ein Bild nach dem
anderen
heraus, schüttelt den Kopf, legt das Bild wieder zurück.
"Mutter,
wen suchst Du denn?" Gabys Mutter trifft ein langer trauriger,
verzweifelter
Blick: " Wo is'n mein Bildl?"