Das " Erythema infectiosum" ist eine Parvo-B19-Virus-Infektion, wird
auch Morbus quintus , Ohrfeigenkrankheit (2), im Englischen: fifth
disease, slap-cheek
disease genannt (8)
Diese Kinderkrankheit wird wegen geringer Beschwerden oft nicht diagnostiziert
und ist in 8-10 Tagen vergessen.
Wohl aber nicht bei einem 57jährigen. Die abendlichen subfebrilen
Temperaturen blieben für 6 Wochen. Ab 18:00 Uhr Anstieg auf maximal
38,0 °C, Abfall ab
22:00 Uhr, Nachtschweiß, Schlaf tief, aber wenig erholsam.
Die 2. Woche wurde sehr unangenehm. Ziehende, stechende Schmerzen
in den Beinen, betont in den Waden und in den Gesäßmuskeln,
nicht immer symmetrisch,
traktierten mich nach dem Aufstehen schon beim Rasieren. Die Beine
konnten nicht ruhig gehalten, die krampfartigen Schmerzen ließen
sich nur durch Bewegungen
für Sekunden mildern. In der für einen Arzt nicht ganz typischen
Arbeitshaltung - Füße auf den Schreibtisch - waren die Schmerzen
sofort weg. Hin und wieder
beidseitig eiskalte, weiße Finger für wenige Minuten.
Das ging 14 Tage so, dann änderte sich die Schmerzcharakteristik.
Die Schmerzen waren jetzt mehr wie Muskelkater, die Beine konnten wieder
ruhig gehalten
werden. Neu war ein rheumatisches Ziehen in den Muskeln beider Mittelhände,
das sporadisch gegen Abend auftrat.
In der dritten Woche schien es dann doch an der Zeit, die Diagnose
zu erhärten. Die Blut- und Serumuntersuchungen ergaben eine Überraschung
und eine
Enttäuschung: kein Nachweis von spezifischen IgG- und IgM-Antikörper
gegen Parvoviren, aber eine BSG von 50/76 mm/h, das CRP von 4,21 mg/dl
(Norm <
0,5 mg/dl) massiv erhöht, Eisen mit 42 mcg/dl erniedrigt,
aber ein vollkommen normales weißes und rotes Blutbild, keine Leukozytose,
keine Linksverschiebung.
Dennoch riet der Kollege Laborarzt auch andere bakterielle Ursachen
auszuschließen, aber auch damit gelang keine kausale Abklärung.
Die Lehrbücher der Innern und Allgemeinen Medizin waren wenig
ergiebig: 60 % der Bevölkerung hat Antikörper, nur wenige
haben wissentlich eine Erkrankung
durchgemacht, es gab nur spärliche Hinweise auf persistierende
Infektionen, die mit wochenlangen Arthralgien und Neuropathien einher gehen
sollen.
Erst ein Medline-Fischzug im WorldWideWeb brachte Erklärungen
für die erlittenen Phänomene:
"Two cases of systemic vasculitis are described; ..... the other with
leucocytoclastic vasculitis and mesoangioproliferative glomerulonephritis
secondary to a recent
parvovirus B19 infection."(3) "Parvovirus B19 infection -- an
insidious chameleon" (4), "Major manifestations of B19 infection
are..........acute and chronic
rheumatoid-like arthropathy .... B19 has been suggested as a candidate
agent in rheumatic diseases." (5) "Raynaud's phenomenon as a manifestation
of parvovirus B
infektion. ...Case reports and review of parvovirus B19 rheumatic
and vasculitis syndromes.: We review all the studies in the English-language
literature on
parvovirus B19-induced rheumatic and vasculitis syndromes."(6) In dieser
Arbeit aus Israel vom März 2000 fand sich ein sehr tröstlicher
Satz: "All symptoms
gradually subsided within 3-5 months."
Spiegele ich meine Beschwerden an diesen Informationen, so sind sie
am ehesten vasculitischer Natur. Die Zunahme bei hydrostatischer Belastung
wie Stehen und
Gehen und die sofortige Schmerzminderung bei Hochlagerung lassen sich
so am leichtesten erklären.
In der 5. Krankheitswoche läßt das allgemeine Krankheitsgefühl
nach, obwohl mir noch immer intensive Schmerzen in der Beinmuskulatur zu
schaffen machen. Die
Kontrolle der Laborwerte steht an. Die Senkung ist weiter gestiegen,
auf 70/84 mm/h. Dafür aber fiel das CRP auf 3,62 mg/dl ab. Das Eisen
steigt auf 56,3 mcg/dl
(Norm > 59 mcg/dl). "Entzündung frißt Eisen", hatten wir
doch mal gelernt, demnach ein Hoffnungsschimmer. Der Appetit der Vasculitis
läßt nach, meiner nimmt zu.
Das subjektive Gefühl der Besserung geht den Laborwerten voraus.
Jetzt, am 29. Tag nach Exanthembeginn werden aber im Labor noch immer
keine spezifischen Antikörper gefunden. Was hat die höhere Relevanz,
das klinische Bild
oder die Laborbefunde? Muß man weiter abklären oder gebe
ich mich mit der Besserung zufrieden? Welche Kriterien sind notwendig,
welche hinreichend?
Mit dem gebesserten Allgemeinbefinden kommt auch die Muße, noch
einmal im Web zu forschen.
Das Deutsche Ärzteblatt hat aus 1996 einen Übersichtsartikel
im Archiv: "Parvovirus-B19-Infektionen: Sind es nur harmlose Ringelröteln?"
(1) Das "British Medical
Journal" brachte 1995 ein Review "Parvovirus B19: an expanding spectrum
of disease"(7). In beiden wird deutlich, daß die Folgeerkrankungen
sehr problematisch
sein können. In einem früheren Editorial der BMJ (8) und
einem Letter dazu (9) wird die Schwierigkeit einer sicheren Labordiagnose
beschrieben.
Mit dem Stichwort "Parvovirus" findet die allgemeine Suchmaschine "Google"
1070 Einträge. Identische aussortiert, bleiben 555 Links, die Hälfte
beschäftigt sich mit
den schwerwiegenden, tödlichen Parvovirus-Infektionen der
Hunde und Katzen, die Veterinäre haben allerdings potente Impfungen.
Nun zeigt sich aber, daß über die Parvoviren auch in Deutschland
intensiv geforscht wird. An den Universitäten Leipzig, Erlangen und
Regensburg gibt es
Arbeitsgruppen von Transfusionsmedizinern, Mikrobiologen, Internisten.
Prof. Susanne Modrow, Uni Regensburg (10), ist ein wesentlicher Fund.
Ihre Homepage "www.parvovirus.de" weist sie als Referenzstelle des
Robert-Koch-Instituts aus. Nach einem ratsuchenden Telefonat bietet
die Professorin an, in ihrem Institut auf Virussuche in meinem Serum zu
gehen.
In der 6. Woche fallen die abendlichen Temperaturmaxima. Aber
noch immer werden sie durch Müdigkeit und "ziehende Schmerzen"
in den Beinen angekündigt
und halten etwa 2 Stunden an. Die Arbeit und der Alltag lassen sich
wieder normal gestalten. Das sonst geübte "Sporteln" lockt allerdings
nicht und wird gemieden.
Ein gemütliches Rasenmähen ist gerade genug Belastung.
Wieder eine Enttäuschung, das Serum vom 34. Tag, nun im Regensburger
Universitätslabor einem ELISA-Test unterzogen, jetzt der dritte, enthält
wiederum keine
IgM- und keine IgG-Antikörper gegen Parvo-Viren.
Ähnliche Erfahrungen wurden allerdings 1994 auch in Dublin gemacht.
In einem Leserbrief an das British Medical Journal berichten eine Arbeitsgruppe,
daß sie in
akuten Fällen nur schwache Reaktionen im Immunfluoreszenstest
fanden, im Westernblot dagegen stark positive Reaktionen. Sie weisen auch
besonders auf die
wichtige pathognomonische Bedeutung des flüchtigen "Ohrfeigengesichtes"
hin. (9)
Mit Beginn der 7. Woche verschwinden das Krankheitsgefühl, die
Schmerzen in den Beinen und die abendlichen Temperaturen endgültig,
dem folgen die
Laborwerte des 43. Tages: Die BSG fällt auf 30/60 mm/h, die CRP
und das Eisen sind schon im Normbereich. An den Beinen ist noch ein geringe
gelbbraune,
symmetrische Hautverfärbung handbreit in der Knöchelregion
zu sehen. (Hämatomreste?)
Nun trifft auch die erregerspezifische PCR aus dem Serum des 33. Tages
ein: kein Erregernachweis (mehr?). Ein großes Fragezeichen!
Das wird noch größer als das Regensburger Labor im Western-Blot-Test
zwar keine IgG-Antikörper , aber "positive Banden im anti-Parvovirus
IgM-Westernblot:
VP-N, VP-S" nachweist. Im Kontrollserum, das 14 Tage später vom
47. Tag eingeschickt wird, bestätigt sich dieser Befund: Kein IgG,
aber grenzwertiges IgM
gegen Parvoviren. Die freundliche Professorin kommentiert diesen Befund
eindeutig: Dafür haben wir keine Erklärung!
Am Ende der 8. Woche fühle ich mich gesund, und das behauptet
mein Blut auch, die BSG ist jetzt normal: 8/16 mm/h. Das CRP ist
nicht mehr nachweisbar, der
Eisenwert hat sich verdoppelt, das Cholesterin ist wieder angestiegen.
Einer Entzündung schmeckt nicht nur Eisen, sondern auch Cholesterin.
Und die eher als positiv
gewertete Gewichtsabnahme von 2 kg ist leider auch schon wieder ausgeglichen.
Was wäre einem Patienten mit meiner Symptomatik im ganz normalen
Gesundheitsbetrieb passiert? Hätte sein Arzt die Zeit gefunden, nach
einer so verborgenen
Diagnose zu suchen? Nachdem sein Arzt eine plausible Diagnose nicht
erhärten konnte, wäre der Patient bei ihm geblieben? Hätte
er sich mit ein paar Aspirin und
der Erklärung, spätestens in 5 Monaten sei es vorbei,
zufrieden gegeben. "Rheumatische" Beschwerden und eine so beschleunigte
Senkung, hätten die nicht doch zu
einem Behandlungsversuch mit Cortison geführt? Wäre nach
8 - 10 Wochen die Erinnerung an den akuten, exanthematischen Beginn nicht
verblaßt und hätten die
eigentümlichen Laborwerte dann das Denken und Handeln dominiert
und weitere Untersuchungen veranlaßt?
Was überzeugt uns Ärzte heute mehr, Laborwerte oder klinisches
Bild? Worin steckt mehr von E. Bleulers "autistisch-undisziplinierten Denken"
(11), in meinem
Beharren auf der Relevanz des klinischen Bildes oder im Suchen nach
einem signifikanten Laborwert. Wieviel "Chronische Müdigkeitsyndrome",
"Weichteilrheumatismen", "Polymyalgien" etc. sind doch nur unentdeckte
(Parvo-Virus-)Infektionen?
Nun, war es überhaupt eine? Oder ist es die Sechste Krankheit?
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Bernhard Betz
Internist, Arbeitsmediziner, Umweltmedizin
Ltd. Arzt des BAZ Amberg
Sulzbacherstr. 121
92224 Amberg
e-Mail: DBetz@t-online.de
Nachtrag:
Nach Abschluß des Manuskripts erschien im Deutschen Ärzteblatt
ein auf den neuesten Stand gebrachten Übersichtsartikel zu Parvovirus
B19 Infektionen von Fr.
Prof. Dr.rer.nat. Susanne Modrow, der auch erklärte, warum
die Erkrankung die „fünfte“ sei: (Dt.Ärztebl 2001; 98:A 1620-1624
(Heft 24)
Literaturverzeichnis:
1. Schleunig M: Parvovirus-B19-Infektionen: Sind es nur harmlose Ringelröteln?
Dt Ärztebl 1996; 93: A-2781-2784
2. Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, 256.A S. 478
3. Chakravarty K, Merry P : Systemic vasculits and atypical infections:
report of two cases. Postgrad Med J 1999; 75: 544-546
4. Broliden K, Tolfvenstam T, Papadogiannakis N, et al.: Parvovirus
B19 infection -- an insidious chameleon. Tidsskr Nor Laegeforen 2000 Feb
10; 120(4):
455-458
5. Naides SJ : Infection with Parvovirus B19. Curr Infect Dis Rep 1999
Au, 1(3): 273-278
6. Harel L, Straussberg R, Rudich H, et al.: Raynaud's phenomenon as
a manifestation of parvovirus B19 infection: case reports and review of
parvovirus B19
rheumatic and vasculitic syndromes. Clin Infect Dis 2000 Mar; 30(3)
500-503
7. Cohen,B: Fortnightly Review: Parvovirus B19: an expanding spectrum
of disease. BMJ 1995 Dec; 311: 1549-1552
8. Pattison JR: Human parvovirus B19. BMJ 1994; 308: 149-150
9. Igoe D, Gilmer B, Johnson H, O'Neill HJ: Human parvovirus B19. BMJ
1994; 308: 918-919
10. http://www.uniregensburg.de/Fakultaeten/Medizin/MMH/Forschung/Themen/Parvo.htm
11. Bleuler, E: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. A. ; S.41: "Für
dieses autistische Denken, .., ist charakteristisch, daß es Widersprüche
mit der Wirklichkeit nicht
vermeidet."