Ein Erfahrungsbericht
Die Fünfte Krankheit
von
Dr. med. Bernhard Betz
Wer ihr diesen Namen gab, habe ich nicht herausgefunden, auch nicht, ob die "Fünf" das symbolisieren sollte, was sie für mich zu recht bezeichnet.
"Fünfte Kolonnen" nennt man seit dem spanischen Bürgerkrieg hinter den Fronten verdeckt arbeitende, sabotierende Truppen. So heimtückisch  können sich auch
die Parvo-Viren B19 verhalten.
Eigentlich hat die Geschichte zwei Anfänge.
Bei einer betriebsärztlichen Untersuchung, erzählt ein Proband, daß ihm beim Entkleiden gestern abend eine flächige Rötung am rechten Unterschenkel aufgefallen
sei. Er habe zwar keine Beschwerden, aber ob ich es mir ansehen wollte. Wollte ich. Die Streckseite des Unterschenkels war von einem flächigen, nicht ganz scharf
begrenzten Erythem überzogen. Das typische Bild eines Erysipels oder auch eines Schweine-Rotlaufs. Aber keine Eintrittspforte, kein Fieber, keine Schweine zu
Hause, keine Beschwerden.... Es könne ja doch ein Erysipel sein, also beobachten.
Einer der ersten sonnigen Tage im Anfang April, ein Dienstag, zwei Wochen später.  Ohne jede Vorankündigung, aus heiterem Himmel und Wohlbefinden bekomme
ich abends Frösteln, ein deutliches  Krankheitsgefühl, 37,6 °C sublingual.
Den Winter hatte ich ohne Infekt überstanden, nun hat es mich doch noch erwischt. Schnupfen und Halsweh werden wohl noch kommen (Sie kamen auch die
nächste Wochen nicht!).
 "Du hast ja die Röteln". Bevor ich den Schlafanzug anzog, sah meine Frau an meinem Rücken und Bauch den klassischen kleinfleckigen Ausschlag. Am nächsten
Tag konfluierten die Fleckchen, am übernächsten waren sie spurlos verschwunden, keine Schuppung. Dafür blieb für einige Tage an beiden Unterschenkeln, an den
Streckseiten, vom Sprunggelenk bis zur Kniescheibe ein flächiges Erythem, bei Berührung eher ein wenig taub, im Bereich der Knöchel ein geringes, wegdrückbares
Ödem. Als ich meiner Helferin von diesem Ausschlag erzählte, sagte sie spontan: "Am Dienstag nachmitttag hatten Sie ein so rotes Gesicht, aber ich dachte es wäre
die Frühlingssonne!"
Jetzt war die Diagnose klar: kurzfristiges "Ohrfeigengesicht", Rötelexanthem am Rumpf, Streckseitenerytheme, subfebril, keine respiratorischen Symptome. Das
müssen "Ringelröteln" sein.

Das " Erythema infectiosum" ist eine Parvo-B19-Virus-Infektion, wird auch Morbus quintus , Ohrfeigenkrankheit (2),  im Englischen: fifth disease, slap-cheek
disease genannt (8)
Diese Kinderkrankheit wird wegen geringer Beschwerden oft nicht diagnostiziert und ist  in 8-10 Tagen vergessen.
Wohl aber nicht bei einem 57jährigen. Die abendlichen subfebrilen Temperaturen blieben für 6 Wochen. Ab 18:00 Uhr Anstieg auf maximal 38,0 °C, Abfall ab
22:00 Uhr, Nachtschweiß, Schlaf tief, aber wenig erholsam.
Die 2. Woche wurde sehr unangenehm. Ziehende, stechende Schmerzen  in den Beinen, betont in den Waden und in den Gesäßmuskeln, nicht immer symmetrisch,
traktierten mich nach dem Aufstehen schon beim Rasieren. Die Beine konnten nicht ruhig gehalten, die krampfartigen Schmerzen ließen sich nur durch Bewegungen
für Sekunden mildern. In der für einen Arzt nicht ganz typischen Arbeitshaltung - Füße auf den Schreibtisch - waren die Schmerzen sofort weg. Hin und wieder
beidseitig eiskalte, weiße Finger für wenige Minuten.
Das ging 14 Tage so, dann änderte sich die Schmerzcharakteristik. Die Schmerzen waren jetzt mehr wie Muskelkater, die Beine konnten wieder ruhig gehalten
werden. Neu war ein rheumatisches Ziehen in den Muskeln beider Mittelhände, das sporadisch gegen Abend auftrat.
In der dritten Woche schien es dann doch an der Zeit, die Diagnose zu erhärten. Die Blut- und Serumuntersuchungen ergaben eine Überraschung und eine
Enttäuschung: kein Nachweis von spezifischen IgG- und IgM-Antikörper gegen Parvoviren, aber eine BSG von 50/76 mm/h, das CRP von 4,21 mg/dl  (Norm <
0,5 mg/dl) massiv erhöht,  Eisen mit 42 mcg/dl erniedrigt, aber ein vollkommen normales weißes und rotes Blutbild, keine Leukozytose, keine Linksverschiebung.
Dennoch riet der Kollege Laborarzt auch andere bakterielle Ursachen auszuschließen, aber auch damit gelang keine kausale Abklärung.
Die Lehrbücher der Innern und Allgemeinen Medizin waren wenig ergiebig:  60 % der Bevölkerung hat Antikörper, nur wenige haben wissentlich eine Erkrankung
durchgemacht, es gab nur spärliche Hinweise auf persistierende Infektionen, die mit wochenlangen Arthralgien und Neuropathien einher gehen sollen.
Erst ein Medline-Fischzug im WorldWideWeb brachte Erklärungen für die erlittenen Phänomene:
"Two cases of systemic vasculitis are described; ..... the other with leucocytoclastic  vasculitis and mesoangioproliferative glomerulonephritis secondary to  a recent
parvovirus B19 infection."(3)  "Parvovirus B19 infection -- an insidious chameleon" (4), "Major manifestations of B19  infection are..........acute and chronic
rheumatoid-like arthropathy .... B19 has been suggested as a candidate agent in rheumatic diseases." (5) "Raynaud's phenomenon as a manifestation of parvovirus B
infektion. ...Case reports and  review of parvovirus B19 rheumatic and vasculitis syndromes.: We review all the studies in the English-language literature on
parvovirus B19-induced rheumatic and vasculitis syndromes."(6) In dieser Arbeit aus Israel vom März 2000 fand sich ein sehr tröstlicher Satz: "All symptoms
gradually subsided within 3-5 months."
Spiegele ich meine Beschwerden an diesen Informationen, so sind sie am ehesten vasculitischer Natur. Die Zunahme bei hydrostatischer Belastung wie Stehen und
Gehen und die sofortige Schmerzminderung bei Hochlagerung lassen sich so am leichtesten erklären.
In der 5. Krankheitswoche läßt das allgemeine Krankheitsgefühl nach, obwohl mir noch immer intensive Schmerzen in der Beinmuskulatur zu schaffen machen. Die
Kontrolle der Laborwerte steht an. Die Senkung ist weiter gestiegen, auf 70/84 mm/h. Dafür aber fiel das CRP auf 3,62 mg/dl ab. Das Eisen steigt auf 56,3 mcg/dl
(Norm > 59 mcg/dl). "Entzündung frißt Eisen", hatten wir doch mal gelernt, demnach ein Hoffnungsschimmer. Der Appetit der Vasculitis läßt nach, meiner nimmt zu.
Das subjektive Gefühl der Besserung geht den Laborwerten voraus.
Jetzt, am 29. Tag nach Exanthembeginn werden aber im Labor noch immer keine spezifischen Antikörper gefunden. Was hat die höhere Relevanz, das klinische Bild
oder die Laborbefunde? Muß man weiter abklären oder gebe ich mich mit der Besserung zufrieden? Welche Kriterien sind notwendig, welche hinreichend?
Mit dem gebesserten Allgemeinbefinden kommt auch die Muße, noch einmal im Web zu forschen.
Das Deutsche Ärzteblatt hat aus  1996 einen Übersichtsartikel im Archiv: "Parvovirus-B19-Infektionen: Sind es nur harmlose Ringelröteln?" (1) Das "British Medical
Journal" brachte 1995 ein Review "Parvovirus B19: an expanding spectrum of disease"(7). In beiden wird deutlich, daß die Folgeerkrankungen sehr problematisch
sein können. In einem früheren Editorial der BMJ (8) und einem Letter dazu (9)  wird die Schwierigkeit einer sicheren Labordiagnose beschrieben.
Mit dem Stichwort "Parvovirus" findet die allgemeine Suchmaschine "Google" 1070 Einträge. Identische aussortiert, bleiben 555 Links, die Hälfte beschäftigt sich mit
den schwerwiegenden, tödlichen  Parvovirus-Infektionen der Hunde und Katzen, die Veterinäre haben allerdings potente Impfungen.
Nun zeigt sich aber, daß über die Parvoviren auch in Deutschland intensiv geforscht wird. An den Universitäten Leipzig, Erlangen und Regensburg gibt es
Arbeitsgruppen von Transfusionsmedizinern, Mikrobiologen, Internisten.
Prof. Susanne Modrow, Uni Regensburg (10), ist ein wesentlicher Fund. Ihre Homepage "www.parvovirus.de" weist sie als Referenzstelle des
Robert-Koch-Instituts aus. Nach einem ratsuchenden Telefonat bietet die Professorin an, in ihrem Institut auf Virussuche in meinem Serum zu gehen.
In der 6. Woche fallen die abendlichen Temperaturmaxima.  Aber noch immer werden sie durch Müdigkeit und  "ziehende Schmerzen" in den Beinen angekündigt
und halten etwa 2 Stunden an. Die Arbeit und der Alltag lassen sich wieder normal gestalten. Das sonst geübte "Sporteln" lockt allerdings nicht und wird gemieden.
Ein gemütliches Rasenmähen ist gerade genug Belastung.
Wieder eine Enttäuschung, das Serum vom 34. Tag, nun im Regensburger Universitätslabor einem ELISA-Test unterzogen, jetzt der dritte, enthält wiederum keine
IgM- und keine IgG-Antikörper gegen Parvo-Viren.
Ähnliche Erfahrungen wurden allerdings 1994 auch in Dublin gemacht. In einem Leserbrief an das British Medical Journal berichten eine Arbeitsgruppe, daß sie in
akuten Fällen nur schwache Reaktionen im Immunfluoreszenstest fanden, im Westernblot dagegen stark positive Reaktionen. Sie weisen auch besonders auf die
wichtige pathognomonische Bedeutung des flüchtigen "Ohrfeigengesichtes" hin. (9)
Mit Beginn der 7. Woche verschwinden das Krankheitsgefühl, die Schmerzen in den Beinen und die abendlichen Temperaturen endgültig, dem folgen die
Laborwerte des 43. Tages: Die BSG fällt auf 30/60 mm/h, die CRP und das Eisen sind schon im Normbereich. An den Beinen ist noch ein geringe gelbbraune,
symmetrische Hautverfärbung handbreit in der Knöchelregion zu sehen. (Hämatomreste?)
Nun trifft auch die erregerspezifische PCR aus dem Serum des 33. Tages  ein: kein Erregernachweis (mehr?). Ein großes Fragezeichen!
Das wird noch größer als das Regensburger Labor im Western-Blot-Test zwar keine IgG-Antikörper , aber "positive Banden im anti-Parvovirus IgM-Westernblot:
VP-N, VP-S" nachweist. Im Kontrollserum, das 14 Tage später vom 47. Tag eingeschickt wird, bestätigt sich dieser Befund: Kein IgG, aber grenzwertiges IgM
gegen Parvoviren. Die freundliche Professorin kommentiert diesen Befund eindeutig: Dafür haben wir keine Erklärung!
Am Ende der 8. Woche fühle ich mich gesund, und das behauptet mein Blut auch,  die BSG ist jetzt normal: 8/16 mm/h. Das CRP ist nicht mehr nachweisbar, der
Eisenwert hat sich verdoppelt, das Cholesterin ist wieder angestiegen. Einer Entzündung schmeckt nicht nur Eisen, sondern auch Cholesterin. Und die eher als positiv
gewertete Gewichtsabnahme von 2 kg ist leider auch schon wieder ausgeglichen.
Was wäre einem Patienten mit meiner Symptomatik im ganz normalen Gesundheitsbetrieb passiert? Hätte sein Arzt die Zeit gefunden, nach einer so verborgenen
Diagnose zu suchen? Nachdem sein Arzt eine plausible Diagnose nicht erhärten konnte, wäre der Patient bei ihm geblieben? Hätte er  sich mit ein paar Aspirin und
der Erklärung, spätestens in 5 Monaten sei es vorbei,  zufrieden gegeben. "Rheumatische" Beschwerden und eine so beschleunigte Senkung, hätten die nicht doch zu
einem Behandlungsversuch mit Cortison geführt? Wäre nach 8 - 10 Wochen die Erinnerung an den akuten, exanthematischen Beginn nicht verblaßt und hätten die
eigentümlichen Laborwerte dann das Denken und Handeln dominiert und weitere Untersuchungen veranlaßt?
Was überzeugt uns Ärzte heute mehr, Laborwerte oder klinisches Bild? Worin steckt mehr von E. Bleulers "autistisch-undisziplinierten Denken" (11),  in meinem
Beharren auf der Relevanz des klinischen Bildes oder im Suchen nach einem signifikanten Laborwert. Wieviel "Chronische Müdigkeitsyndrome",
"Weichteilrheumatismen", "Polymyalgien" etc.  sind doch nur unentdeckte (Parvo-Virus-)Infektionen?
Nun, war es überhaupt eine? Oder ist es die Sechste Krankheit?
 

Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Bernhard Betz
Internist, Arbeitsmediziner, Umweltmedizin
e-Mail: DBetz@t-online.de

Nachtrag:
Nach  Abschluß des Manuskripts erschien im Deutschen Ärzteblatt ein auf den neuesten Stand gebrachten Übersichtsartikel zu Parvovirus B19 Infektionen von  Frau Prof. Dr.rer.nat. Susanne Modrow, der  auch erklärte, warum die Erkrankung die „fünfte“ sei: (Dt.Ärztebl 2001; 98:A 1620-1624 (Heft 24)

Literaturverzeichnis:
1. Schleunig M: Parvovirus-B19-Infektionen: Sind es nur harmlose Ringelröteln? Dt Ärztebl 1996; 93: A-2781-2784
2. Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, 256.A  S. 478
3. Chakravarty K, Merry P : Systemic vasculits and atypical infections: report of two cases. Postgrad Med J 1999; 75: 544-546
4. Broliden K, Tolfvenstam T, Papadogiannakis N, et al.: Parvovirus B19 infection -- an insidious chameleon. Tidsskr Nor Laegeforen 2000 Feb 10; 120(4):
455-458
5. Naides SJ : Infection with Parvovirus B19. Curr Infect Dis Rep 1999 Au, 1(3): 273-278
6. Harel L, Straussberg R, Rudich H, et al.: Raynaud's phenomenon as a manifestation of parvovirus B19 infection: case reports and review of parvovirus B19
rheumatic and vasculitic syndromes. Clin Infect Dis 2000 Mar; 30(3) 500-503
7. Cohen,B: Fortnightly Review: Parvovirus B19: an expanding spectrum of disease. BMJ 1995 Dec; 311: 1549-1552
8. Pattison JR: Human parvovirus B19. BMJ 1994; 308: 149-150
9. Igoe D, Gilmer B, Johnson H, O'Neill HJ: Human parvovirus B19. BMJ 1994; 308: 918-919
10. http://www.uniregensburg.de/Fakultaeten/Medizin/MMH/Forschung/Themen/Parvo.htm
11. Bleuler, E: Lehrbuch der Psychiatrie, 15. A. ;  S.41: "Für dieses autistische Denken, .., ist charakteristisch, daß es Widersprüche mit der Wirklichkeit nicht
vermeidet."